Renate Lunzer

Da stehen sie in den Gewänden unserer gotischen Dome, die schlanken, schön gekleideten, vermutlich blonden Mädchen, an denen ich mich nie sattsehen konnte. Stundenlang habe ich sie angeschaut, in Paris und in Reims, in Straßburg, in Bern und Basel, in Freiburg und Magdeburg: fünf auf der einen, fünf auf der anderen Seite – die klugen und die törichten Jungfrauen, die, offenbar zu später Stunde, auf den Bräutigam warten:

Die törichten nahmen zwar ihre Lampen mit sich, aber kein Öl. Die klugen dagegen nahmen mit den Lampen auch Öl in ihren Krügen mit… Um Mitternacht erscholl der Ruf: Der Bräutigam kommt! Geht ihm entgegen! Da erhoben sich alle jene Jungfrauen und richteten ihre Lampen her… Die bereit waren, gingen mit ihm in den Hochzeitssaal… die törichten aber…

Ja, denen war das Öl ausgegangen, die klugen borgten ihnen keines, sie mussten es nachkaufen, kamen zu spät und die Türe zum Saal war schon verschlossen. Das alte, bei Matthäus 25 in dieser Form überlieferte rabbinische Gleichnis hat zahlreiche, nicht nur soteriologische Auslegungen erfahren, von denen man manche in ihrer Verstiegenheit auch vergessen kann.  Unvergesslich und hochdramatisch sind die Mädchenstatuen der alten Bildhauer: innig zufrieden, selig lächelnd oder triumphierend vor Freude stehen die klugen Jungfrauen da, schmerzvoll lassen die törichten ihre Öllampen nach unten sinken, schlagen sich entsetzt an den Kopf, meditieren traurig über das Versäumen des rechten Augenblicks.

Sehr bald, nachdem ich Birgit kennengelernt hatte, muss mir der Gedanke gekommen sein, dass ich es hier unverwechselbar mit einer klugen Jungfrau zu tun hatte, die in geistesklarer, unbestechlicher, aufrichtiger und liebenswürdiger Helligkeit Ziele verfolgte oder Probleme löste. Die ihren Ölkrug niemals vergaß, stets ihre Lampe am Brennen hielt und elegant zum richtigen Zeitpunkt die Saaltüren öffnete. Zum Unterschied von den biblischen Lampenträgerinnen keineswegs geizend mit ihrem Öl, von dem sie uns, den KollegInnen und den Studierenden, gerne und reichlich abgab, glich sie ihnen (den klugen) doch insofern, als sie konsequent und ein wenig grausam eine ihrer Ressourcen hütete: die Zeit. Wie gerne hätten törichte Zeit- und Gedankenverschwender und Verschwenderinnen oft ein Gespräch länger hingezogen, noch eine Geschichte erzählt, aber da riefen sie Blick und Geste – es bedurfte gar nicht der Worte – freundlich, aber bestimmt, zu strengerer Ordnung. Und wie recht sie doch hatte…

Auf welches Podest ich Birgit stellen würde? Ans Portal des Straßburger Münsters, mit Seitenwechsel und im dialektischen Gegensatz neben das törichteste der törichten Mädchen: seine Lampe liegt schon am Boden und dümmlich lächelnd, eitel die Hüfte schwingend ist es dabei, dem Fürsten der Finsternis  auf den Leim zu gehen. Dem wachsen aus dem Rücken schon die Schlangen und Kröten, aber sie sieht es nicht. Birgits Nähe würde sie retten, sie motivieren, das Licht wieder aufzunehmen und den Ölkrug immer dabei zu haben.

Renate Lunzer