Institutsgeschichte
"Der Begriff der Romanistik hat sich seit den Zeiten, da wir studierten, gewaltig gewandelt. Ich habe Ihnen mit dem Vorstehenden gewiß nichts Neues gesagt, aber vielleicht auf Einiges Akzente gesetzt, was mich von der 'M.-L-Schule' trennt. Verargen Sie mir es bitte nicht. Ich werde es nächstens auch öffentlich sagen: ich kann nicht anders."
(Leo Spitzer, Brief an Elise Richter, August 1925, zit. n. Hurch 2009, 237)
Die Anfänge des Instituts für Romanistik an der Universität Wien wurden besonders durch Adolf Mussafia und Wilhelm Meyer-Lübke geprägt. Der einer dalmatinischen Sephardenfamilie entstammende Italianist Mussafia wurde 1867 zum ersten Professor für Romanische Philologie ernannt. 1890 folgte ihm der Schweizer Sprachwissenschafter Meyer-Lübke, auf den auch die Gründung des „Seminars für Romanische Philologie“ zurückgeht. Bei ihm promovierte 1910 der Wiener Romanist Leo Spitzer, der nach vergeblichen Versuchen, in Wien beruflich Fuß zu fassen, sowie Stationen in Deutschland in die Türkei emigrieren musste und 1936 schließlich eine Professur an der Johns Hopkins University in Baltimore annahm. Auf den renommierten Sprach- und Literaturwissenschafter beruft sich die Universität Köln mit den seit 2013 verliehenen Leo-Spitzer-Preisen für zukunftsweisende Leistungen im Gebiet der Geistes- und Humanwissenschaften.
In besonderer Weise ist die Wiener Romanistik auch mit dem Namen und Werdegang von Elise Richter verbunden. Sie war 1897 die erste Frau Österreich-Ungarns, die die Matura (Reifeprüfung) ablegte. 1905 habilitierte sich die Romanistin als erste Frau im deutschen Sprachraum. Als Jüdin von den Nazis verfolgt, kam sie 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt um. Ihr ist am Institut seit 1985 eine Gedenktafel gewidmet, die sich aktuell oberhalb des Bibliothekseingangs befindet. Nach Elise Richter sind heute auch der Elise-Richter-Preis der Deutschen Romanistenverbandes und das Elise-Richter-Programm des Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF benannt.
Für die Geschichte des Instituts für Romanistik und der Universität Wien im Austrofaschismus und im NS-Regime ergibt sich ein widersprüchliches Gesamtbild aus Tätern, Mitläufern und Opfern. Klagte schon Leo Spitzer über das antisemitische Klima in Wien, bevor er 1920 nach Bonn ging, so wurden die Literaturwissenschafter Wolfgang Wurzbach und Stefan Hofer 1938 aus dem Dienst entlassen und konnten erst nach 1945 wieder an die Wiener Romanistik zurückkehren. Walther Küchler wiederum, der von 1922 bis 1927 die romanische Literaturwissenschaft in Wien vertrat und danach nach Hamburg ging, setzte sich in der Zeitschrift Die neueren Sprachen unter Berufung auf eine Reichstagsrede Hitlers vergeblich für Völkerverständigung ein. Der frankreichfreundliche Pazifist wurde 1933 zwangspensioniert.
Einen Gegenpol bilden der überzeugte Nationalsozialist Gerhard Moldenhauer, der seine Universitätskarriere in Argentinien fortsetzen konnte, und der Meyer-Lübke-Schüler und Nationalsozialist Josef Huber, der von 1939 bis 1945 Professor an der Romanistik war. Ein prominenter Fall ist der Absolvent der Wiener Romanistik Georg Rabuse, der 1965 als Professor an das Institut zurückkehrte. Als NSDAP-Mitglied und leitender Mitarbeiter des Deutschen Instituts in Paris, das ab 1940 als kulturpolitischer Arm der Botschaft fungierte, gehörte er zu den schwer ‚Belasteten‘. Auch wenn einiges darauf hindeutet, dass er sich um eine gewisse Öffnung der Kulturpolitik des Naziregimes in Frankreich bemühte, prägen u.a. Fotografien aus dem Jahr 1941 das kollektive Gedächtnis. Sie zeigen Rabuse an der Seite französischer Antisemiten und NS-Kollaborateure wie Pierre Drieu La Rochelle und Robert Brasillach bei der Rückkehr von einem Weimarer Propagandatreffen nach Paris.
Nach Zeiten, in denen das Institut mit bescheidensten Mitteln den Alltag einer kleinen Gruppe von Lehrenden und Studierenden zu bewältigen hatte, erreichte die Wiener Romanistik in den Nachkriegsjahrzehnten nach und nach den Status eines Massenfaches. Hatten schon seit 1959 aus dem Ausland berufene Persönlichkeiten wie der Schweizer Französist Carl Theodor Gossen und der deutsche Italianist Alfred Noyer-Weidner Impulse für einen Neubeginn geliefert, so erfolgte ab den 1970er Jahren, u.a. mit Hans Hinterhäuser, Erika Kanduth und Wolfgang Pollak, ein nicht selten konfliktträchtiger Umbau der Forschungsschwerpunkte und theoretisch-methodologischen Positionen des Wiener Instituts. Mehr und mehr wurden aktuelle sprachliche, literarische und gesellschaftliche Entwicklungen in inter- und transnationaler Perspektive in den Fokus genommen. Insbesondere ab den 1990er Jahren wurden die Lehre und die Forschung am Institut – früher als an vielen anderen Standorten der deutschsprachigen Romanistik – interdisziplinär und interkontinental neuperspektiviert sowie kultur- und medienwissenschaftlich geöffnet.
Wie Fritz-Peter Kirsch anlässlich einer Ausstellung zur Institutsgeschichte von 2001 feststellte, waren die Ersten, die sich mit den politischen Verstrickungen der Wiener Romanistik während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt haben, Absolvent_innen und Angehörige des Mittelbaus. Allerdings lasse sich bei fast allen Institutsangehörigen eine stärkere Sensibilisierung für gesellschaftspolitische Themen und damit auch für Fragen, die den Totalitarismus betreffen, erkennen. Themenkreise wie Faschismus und Diktatur in Europa und Lateinamerika, Literatur- und Sprachgeschichte im Lichte soziokultureller Machtverhältnisse, Kulturkontakte und -konflikte im Kontext der kolonialen Vergangenheit Europas, usw. bildeten die Basis für Schwerpunkte in Forschung und Lehre, die seit den 1980er Jahren das Profil des Gesamtinstituts entscheidend prägen.
Ausgewählte Literatur zur Geschichte des Instituts
Maria Aldouri-Lauber, Die Fachbibliothek für Romanistik. Retro-Perspektive einer wissenschaftlichen Institution, Universität Wien: Institut für Romanistik (Diplomarbeit) 1988.
Mitchell Ash, Josef Ehmer Hg., Universität - Politik - Gesellschaft (= 650 Jahre Universität Wien - Aufbruch ins neue Jahrhundert Bd. 2). Göttingen: V&R Vienna University Press 2015.
Wolfgang Bandhauer, Niemals vergessen! Elise Richter zum Gedenken, in: Semiotische Berichte 9 (1985), 165-168.
Hans Ulrich Gumbrecht, Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. München: Hanser 2002.
Murray G. Hall, Christina Köstner, Margot Werner Hg., Geraubte Bücher. Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek 2004.
Frank-Rutger Hausmann, 'Dichte, Dichter, tage nicht!' Die Europäische Schriftsteller-Vereinigung in Weimar 1941-1948. Frankfurt am Main: Klostermann 2004.
Ders., 'Vom Strudel der Ereignisse verschlungen'. Deutsche Romanistik im 'Dritten Reich'. Frankfurt am Main: Klostermann 2008.
Gernot Heiß, Siegfried Mattl, Sebastian Meissl, Edith Saurer, Karl Stuhlpfarrer Hg., Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1989.
Bernhard Hurch, 'Wir haben die Zähigkeit des jüdischen Blutes!' Leo Spitzer an Elise Richter, in: Grazer Linguistische Studien 72 (2009), 199-244.
Christiane Hoffrath, Bücherspuren. Das Schicksal von Elise und Helene Richter und ihrer Bibliothek im 'Dritten Reich' (= Schriften der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln 19), Köln: Böhlau 2009.
Fritz Peter Kirsch, 100 Jahre Romanistik in Wien, in: Deutscher Romanistenverband. Mitteilungen 1 (1992), 36-44.
Ders., Die Wiener Romanistik und der Totalitarismus. Zu Texten und Bildern einer Ausstellung, in: Romanistik interkulturell. Literaturen, Kulturen, Sprachen, 2001, www.univie.ac.at/aedf/texte/kirschrom.htm
Siegfried Loewe, Discrimination et exclusion. Les universitaires juifs et l'année 1938, in: Austriaca. Cahiers universitaires d'information sur l'Autriche 31 (1990), 61-67.
Robert Tanzmeister, Die Wiener Romanistik im Nationalsozialismus, in: Mitchell G. Ash, Wolfram Nieß, Ramon Pils Hg., Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel Wien. Göttingen: V&R 2010, 487-520.